CONCEPT
Religion Kunst Wissenschaft


Religionen manifestieren sich für den Menschen in der Welt als sinnlich wahrnehmbare Phänomene. Wer verstehen will, was Religionen ausmacht, bekommt es zunächst mit Räumen, Ritualen, Texten, Bilder, Klängen, Gesten, Berührungen, mit Geschmäckern, sogar mit Gerüchen zu tun und erst dann mit ausformulierten Lehren und Weltanschauungen. „Die Erkenntnisse auf die sie gehen“, so der Philosoph und Autor Navid Kermani, „werden durch sinnliche Erfahrungen mehr als durch gedankliche Überlegungen hervorgerufen, sind ästhetischer eher als diskursiver Art. Die Vorgänge, die ihre Praxis ausmachen, sind keine Lehrveranstal-tungen, vielmehr Ereignisse, die den Menschen physisch nicht weniger als geistig bewegen”.
Dennoch findet das Gespräch der Religionen gegenwärtig vor allem auf der kognitiven Ebene der Lehren und Weltanschauungen in Form eines Vergleichs unterschiedlicher Lehrmeinungen und systematischen Positionen statt, während die primären Quellen religiöser Identität und die eigentlichen Kontaktpunkte religiösen und gesellschaftlichen Zusammenlebens, eben die ästhetischen Ausdrucksgestalten der Religionen, eine untergeordnete Rolle spielen. Diese ästhetische Ebene will die Veranstaltungsreihe Ästhetik der interreligiösen Begegnung erfahrbar machen.

Aber was hat ÄSTHETIK mit Religion zu tun? Und Religion mit KUNST? Und Kunst mit WISSENSCHAFT? Und Wissenschaft mit SPIRITUALITÄT? Und Spiritualität mit KULTURen der Welt?

Nonverbale Quellen werden bislang nur selten in die religionswissenschaftlichen Untersuchungen einbezogen und ihre Bedeutung oft marginalisiert. Bis heute liegt der Schwerpunkt der religions- und kulturwissenschaftlichen Arbeit vornehmlich auf der Untersuchung von Texten, doch gerade im Bereich der Gegenwartsreligion darf die Bedeutung nicht-schriftlicher alltagsreligiöser Praxis und kultureller Handlungen, also alles was jenseits rein kognitiver Inhalte liegt, nicht unterschätzt oder gar ignoriert werden. Denn genau hier wird deutlich, dass Religion und Kultur eben besonders durch ihre Formen, Gerüche, Klänge, Rituale, Rezitationen, Performances und eine Vielzahl weiterer religiöser Genres vermittelt und erlebt wird und darin ein wahrer erkenntnistheoretischer Mehrwert zu finden ist. Im Bereich der Religionsästhetik werden unterschiedliche Sinne angesprochen, um durch taktile Reize und eigene Körpererfahrungen ein tieferes Verständnis für religiöse Riten und fremde Kulturen zu schaffen. Das sinnlich Wahrnehmbare an Kultur wird herausgestellt und somit der Mensch als Ganzer aktiviert. Symbole und Zeichen, die als Verweis auf dogmatische Lehren funktionieren, haben eine eigene sinnlich erfahrbare Ebene, die in ihrer Wirkung zu einem tieferen Verständnis und einer umfangreicheren Wahrnehmung beitragen und Bindung ebenso wie Zugehörigkeit stärken. Darüber hinaus schaffen sie Verbindungen zwischen Kulturen, die eine allein semantische Vermittlung kultureller und religiöser Inhalte nicht gewährleisten kann. Der Mensch muss vornehmlich als ein sinnlich wahrnehmbares und sinnlich wahrzunehmendes Wesen gesehen werden und nicht als bloßer Rezipient. Er ent-wickelt sich in der kreativen Auseinandersetzung mit seiner Umwelt.

Ästhetische Bildung versteht sich daher nicht in erster Linie als Wissensaneignung, sondern als Ergebnis sinnlich wirksamer Erfahrungen, die selber Quelle von Wissen und Erkenntnis sein können. Ästhetik der interreligiösen Begegnung nimmt weniger eine bestimmte Methode oder Theorie in den Blick, sondern eröffnet in räumlichen, sozialen und kulturellen Begegnungen eine Schnittstelle zwischen Text und Körper, Bild und Sprache, Imagi-nation und Handlung. Durch die Begegnung neuer, anfangs oft konkurrierender Vorstellungs- und Wahrnehmungswelten können „dritte Räume“ ge-schaffen werden, in denen das Neue und Fremde gesehen, gehört, sogar geschmeckt und gerochen werden kann. Gerade im Hinblick auf unsere multikulturelle Wirklichkeit und das säkulare Selbstverständnis Berlins hat das Projekt mit seinem ästhetischen Fokus das Potential, Einstellungen zu hinterfragen und eine transformative Wirksamkeit zu entfalten.

Üben und Lernen
Das besondere Problem an semiotischen Interpretationen von sinnlich wahrnehmbaren Medien ist die Trennung von Form und Inhalt, die Vorstellung, die Medien seien nur Bedeutungsträger für etwas Existierendes außerhalb ihrer selbst. Diese Dichotomie von Form und Inhalt ist problematisch, denn der Inhalt, also die Bedeutung von Medien ist oft selbst ein sinnlicher. Über die Betrachtung der Rezeptionsprozesse im Ritual gelangt der sinnliche Sinn neben dem diskursiven Sinn ritueller Formen in den Blick, verschmelzen der sinnliche Sinn und der hermeneutische Sinn. Die Wahrnehmung und Bewertung von Sinnesreizen ist hochgradig kulturell geprägt. Um Zugang zu ihnen zu gewinnen, will die Reihe den Teilnehmern

die Möglichkeit geben, sensorische Wahrnehmungen mit den eigenen Sinnen zu erfassen und zu erfahren; denn bei den Veranstaltungen wird jeder Teilnehmerin kulturvertrauten wie auch kulturungewohnten Phänomenen begegnen. Wichtig ist nicht zu vergessen, dass die Eindrücke der Teilnehmer-innen meistens ganz andere sind als die der Akteure und sie oft mit der kulturellen Organisation der Sinne vorerst nicht vertraut sind.

Das Wechselspiel aus eigenen Erfahrungen und Reflexion der Teilnehmer dient als Grundlage, um mit den jeweiligen Akteuren ins Gespräch und in die konkrete Begegnung zu kommen. Die Diversität in Form und Inhalt fördert aber auch gleichzeitig bewegliches Denken und verschiedenartiges Handeln. Es entstehen Begegnungsräume, in denen eine Unterscheidung und Anerkennung von Gruppen- und individuellen Merkmalen, wie (Alltags-)Kultur, Religion, Weltanschauung, Alter, Gender, Sprache, Wahrnehmungsmuster und Spiritualität möglich werden.

Dabei geht es nicht darum, auf der Ebene der Ästhetik Differenzen zu verwischen oder gar zu überwinden, sondern diese mit Blick auf ihre unterschiedlichen ästhetischen Formen zu allererst wahrnehmbar und somit gestaltbar zu machen. In diesem interkulturellen und intrakulturellen Lernen liegt das Potential dieser Begegnungsform. Denn der besondere Charakter der Ausdrucksformen ermöglicht den wechselseitigen Respekt gegenüber dem jeweils Anderen und wahrt die künstlerische ebenso wie religiöse Ausdrucksform, die für sich

steht und als solche potentiell in einer Fremdheit verbleibt. Dennoch können sie zusammenklingen. Das Konzept der künstlerischen Freiheit, das in der Idee der Menschenwürde wurzelt und breite Anerkennung findet, stellt auf der Ebene der Religionen noch ein Desideratum dar. Menschenwürde ist in diesem Sinne nicht nur eine ethische, sondern auch eine ästhetische Kategorie, die in der Souveränität des menschlichen Antlitzes gründet und in der Erfahrung künstlerischer Autonomie ihren besonderen Widerhall findet.

Ästhetische Phänomene schaffen hier deshalb einen geeigneten Zugangspunkt, weil sie unmittelbar direkt und überraschend berühren. So wie die Menschenwürde allen Menschen zukommt, sind alle Kulturen als Kulturen gleichwertig, obwohl unleugbar unterschieden.